Ingvar AmbjörnsenIngvar Ambjörnsen


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Zu Tisch mit Elling


Im Schatten eines Kakaobaumes

In den überaus lebhaften Traumgesichtern und Phantasien, die heute Abend durch mein Gehirn strömen, sehe ich mich selbst in tropischer Hitze in einer Hängematte liegen, mit einem erfrischenden Windhauch von der azurblauen Lagune, wo hellbraune nackte Frauen unter der sengenden Sonne mit einem Ball spielen. Hier liege ich, bekleidet nur mit einem Panamahut und einem luftigen Lendenschurz, und denke an Schokolade. Im Schatten des Baumes Theobroma cacao, wie es sich für einen solchen Anlass gehört. Der Kakaobaum, der mit seinen Früchten, genauer gesagt, mit seinen in den Früchten verborgenen Samen, den Menschen dieses hervorragende Produkt zu purem Genuss und echter Freude geschenkt hat. Ich weiß ja nicht. Während der moderne Norweger versucht, sich Wissen über rote und weiße Weine zu erwerben, habe ich in letzter Zeit versucht, mich über alles zu informieren, was mit Schokolade zu tun hat. Für mich war der Wein, mit all seinen Folgen und Verwicklungen, noch nie ein Weg zu Genuss und Gemütlichkeit. Schokolade dagegen bringt das Beste in mir zum Tragen.

Meine Mutter und ich hatten schlichte Gewohnheiten, wie die meisten in den sechziger und siebziger Jahren. Das galt für alles. Kleidung. Essen. Konsum und Unterhaltung. Und natürlich die Annahme von dem, was man heutzutage „Naschis“ nennt. Limonade, Schokolade, Erdnüsse oder Kartoffelchips waren Produkte, die mit bestimmten Zeitpunkten oder Anlässen verbunden waren, nichts, das im Alltag in freiem Umlauf war. Limonade trank man zum Beispiel am 17. Mai, dem norwegischen Nationalfeiertag, und auf Kinderfesten. Schluss aus. Es war nichts, mit dem man sich einfach so erfrischte. Könnte ich meine Mutter von den Toten aufwecken und ihr erzählen, dass Kinder heutzutage Limo und Cola zum Mittagessen trinken, würde sie das Leben gleich wieder verlassen. Zu meiner Zeit wäre so etwas einfach unvorstellbar gewesen. Aber auch Anschaffung und Verzehr von Schokolade waren bei uns zu Hause strengen Sitten unterworfen. Schokolade kam jeden Samstag auf den Tisch und wurde konsumiert, während Mutter und ich uns die jeweils aktuelle Familienserie zu Gemüte führten: Daktari, Skippy oder wie sie nun alle hießen. Wenn die Erkennungsmelodie aus dem Lautsprecher des Fernsehers strömte, warf Mutter mir einen diskreten Seitenblick zu, das war das Zeichen. Dann stürzte ich in die Küche, wo die Schokoladentüte auf ihrem festen Platz im schrägen Glasschrank über dem Spülbecken lag. Und in der Tüte, die ich jetzt triumphierend ins Wohnzimmer trug, steckten zwei Schokoriegel zu je fünfzig Öre. Niemals mehr. Niemals weniger. (Nach Mutters Tod verzichtete ich auf das ganze Schokoladenvergnügen, der eine Schokoriegel in der Tüte sah einfach zu ärmlich aus).

Ja, damals freuten wir uns über Schokolade zu fünfzig Öre, zwei Stück für eine Krone, pro Nase ein Riegel, heutzutage ist das ja fast nicht mehr zu glauben. Konnte das für einen ganzen Samstagabend denn genug sein? Und die Antwort ist: Ja. Es war genug. Es war absolut genug.

Lohengrin Schokolade © Kjetil Lenes

Mutter schwor ihr Leben lang auf Lohengrin. Das war ihre Schokolade. Ich selbst verliebte mich mal in diese Sorte, mal in jene, und gab Mutter jeden Freitag eine andere Bestellung mit auf den Weg, da sie für den Einkauf am Kiosk unten im Einkaufszentrum zuständig war. In einer Woche war Japp angesagt, in der nächsten vielleicht Stratos. Oder das ein wenig geheimnisvolle Opal. Da saßen wir dann und lutschten an unseren Schokoriegeln zu fünfzig Öre (denn sie sollten lange vorhalten), während wir uns die Abenteuer zahmer Delphine oder gütiger Tierärzte ansahen. Wussten wir etwas über die Schokolade, die wir da verzehrten? Nein. Nur woher sie kam. Von Freia in Oslo oder Nidar in Trondheim. Und dass die dunkle schwarze Masse aus Kakaobohnen stammte. Damit endete unser Wissen.

Deshalb ist es rührend, wenn ich jetzt im Internet zu Wikipedia gehen und die Geschichte Lohengrins erkunden kann, der Schokolade, meine ich. Ja, fast vergieße ich ein Tränchen, wie ich so hier sitze, denn das hätte Mutter gefallen. Dass Lohengrin seinen Namen der Wagner-Oper verdankt, kann ein gebildeter Mensch sich im Grunde ja denken, aber dass diese Schokolade zuerst in den Handel kam, als das Osloer Nationaltheater diese Oper im Jahre 1911 auf den Spielplan setzte, wissen bestimmt die wenigsten. Und auch nicht, dass ihre Form ersonnen wurde von Henrik Bull, dem Architekten, der auch das Theatergebäude entworfen hatte. Was für eine phantastische und romantische Zeit! Wer würde heute auf eine solche Idee kommen! Wir machen eine neue Schokolade, weil im Theater ein alter Klassiker aufgeführt wird! Die bloße Vorstellung! Und Bull setzt sich hin und zeichnet zwei stilisierte Rosen in elegantem Jugendstil und gibt der dunklen Schokolade mit dem Kern aus Rumcreme eine fast perfekte Gestalt.

Da saß meine Mutter, die Arme, und wusste das nicht.

Während ich das und noch allerlei anderes über Schokolade gestern und heute weiß, ja, so viel sogar, dass ich ab und zu mit dem Gedanken spiele, einen Schokoladenkurs für Frauen in der reiferen Jugend anzubieten. Und da alle Entfernung lehrt, dass es wohl kaum so weit kommen wird, denke ich diese Idee immer gleich zu Ende, wenn sie sich zu Wort meldet: In Gedanken segele ich zu einer Südseeinsel wie dieser, wo ich von der Hängematte aus am Lagerfeuer eine Vorlesung über die Unterschiede zwischen den Kakaobohnen Forastero und Criolla halte, ihr Aroma und ihren Nachgeschmack, säuerlich, bitter, würzig, süß, trocken, füllig, rund.

Und die Weinsnobs drüben auf dem Festland sollen machen, was sie wollen.



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Foto: Lohengrin Schokolade © Kjetil Lenes

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