Ingvar AmbjörnsenIngvar Ambjörnsen


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Zu Tisch mit Elling


Gedanke über einen Brotaufstrich

Heute Nacht konnte ich nicht schlafen. Gefangen in einer Gedankenschlinge trieb ich ruhelos durch stille Wohnstraßen und einsame Gegenden. Ich dachte an unsere Geschmacksnerven und daran, wie sich diese im Laufe der Zeit verändern. Was wir als Kinder und Jugendliche gern aßen, wonach wir über den Küchentisch die Hände ausstreckten, ist meistens heute nicht mehr unsere Lieblingskost. Aber na und, fragt jetzt vielleicht das schlichte Gemüt. Spielt das eine Rolle? Nein, vielleicht nicht, antworte ich dann. Für dich nicht. Aber in meiner Wirklichkeit kann es, jedenfalls zeitweise, meine Aufmerksamkeit auf meine eigene Identität und Anwesenheit in dieser Welt lenken. Sind wir, wer wir waren? Können wir damit rechnen, dass wir bleiben, wer wir sind? Solche Dinge. Kümmer‘ du dich nur um deinen eigenen Kram. Erwachsen wirst du noch schnell genug.

Früher am Tag: Ich bin nach einem kleinen Ausflug in den Supermarkt auf dem Heimweg. Hinten beim Fußballplatz hatte jemand einen Unfall. Ich stelle mir eine eilige Hausfrau aus, die gestolpert ist. Einen pensionierten Buchhalter, den der Schlag getroffen hat. Oder ganz einfach einen unachtsamen Jugendlichen, der … Tja. Wir wissen es nicht. Werden es auch nie erfahren. Fest steht nur, oder: In meine Wirklichkeit dringt nur die Tatsache, dass es auf dem Asphalt bei der Bushaltestelle Reste einer umgekippten Plastiktüte oder Einkaufstasche gibt. Die Überreste von einem oder mehreren zerbrochenen Eiern. Und im Rinnstein: ein vertrautes Logo aus meiner Kindheit. Ein Deckel mit einem Kranz aus Glassplittern, eine braune Masse am hellgrauen Bordstein, ein Glas HaPå, das in tausend Stücke zersprungen ist. Irgendwer hat die größten Glasscherben entfernt und einen Großteil der süßen Masse abgekratzt, aber der Deckel liegt vergessen in der Gosse, wie ein auf meine Vergangenheit gerichtetes Auge.

Ich habe HaPå geliebt. Den guten süßen Geschmack. Irgendwo zwischen Schokolade und Karamell. Die feste Konsistenz, wenn man es mit geübter Hand auf die Brotscheibe schmierte. Mit der gelben Margarine bedeckte. Die braune, glänzende Oberfläche. Den breiten Zahnabdruck im Brotbelag nach dem ersten Bissen. Das gute Gefühl, wenn sich die süße Masse mit Kneippbrot und Margarine vermischte. Vielleicht haben wir es, wie so oft im Leben, hier mit einem fließenden Übergang zu tun. Wie mit einer Geschwulst oder Zyste, die in aller Stille wächst, bis zu dem Tag … Bis zu dem Tag, an dem die süßen Brotaufstriche, die Kinderkost, von Salami und Makrele in Tomate vertrieben werden. Und von Spiegelei und Schmierkäse mit Baconstücken. Eines Tages steht man mit leichtem Staunen vor dem Küchenschrank und betrachtet das HaPå-Glas, und denkt, vielleicht sogar mit einem leichten Kopfschütteln: Waren wir wirklich mal ein Paar? Was ist aus Glut und Begehren geworden?

Zu Hause angekommen, setzte ich mich an den Laptop und googele HaPå. Mit einem wehmütigen kleinen Lächeln, sollte ich wohl hinzufügen. Es ist fast, wie auf Facebook das Objekt einer lange zurückliegenden heimlichen Liebe zu suchen. Ach ja. So weit ist man gekommen. Man sitzt in einer Kellerwohnung in Grefsen und googelt HaPå. Endlich am Ziel der Reise. Bis hierher hat mich Gott geführt in Seiner großen Güte.

Aber dann wird man wütend. Hört euch das nur an:
Unaufhaltsam gut?
„HaPå ist ein unaufhaltsam guter Brotaufstrich mit einem ganz besonderen Geschmack, der verspielte Kinder und Erwachsene anspricht.“

Ach was, damit haben wir es also zu tun. Ein Brotaufstrich, der nicht nur wohlschmeckend ist, sondern auch „unaufhaltsam gut“. Tausend Dank, und natürlich wollen auch die Versager von der Werbeakademie irgendwie ihr Brot verdienen. So finden wir es hier in Norwegen ja schließlich richtig. Aber ich schlage vor, das mit den verspielten Kindern und Erwachsenen vergessen wir mal ganz schnell. Das erweckt unerwünschte Assoziationen und wird wohl kaum gebraucht in einer Welt, die ohnehin schon bis zum Überlaufen mit Sauereien aller Art gefüllt ist. Lasst die Kinder miteinander spielen und die Erwachsenen ihren Geschäften nachgehen, aber bleibt auf sicherer Distanz. Und vollständig bekleidet.

Oder urteile ich hier vorschnell? Ja, vielleicht. Es wäre nicht das erste Mal. Um Vergebung, also, liebe Firma Kavli, und wenn ihr mir vergebt, dann vergebe ich euch auch diese Informationen über einen Brotaufstrich, der „während des Krieges“ ausgeheckt wurde, und die Bilder, die ihr uns aufzwingt, von Widerstandskämpfern, den Jungs im Wald, die in ihren Zelten, Hütten und Höhlen sitzen und Zucker und kondensierte Milch karamellisieren, während sie verstohlen über ihre Schulter Ausschau nach Landesverrätern und Nazis halten, ja, da sitzen sie doch tatsächlich und stellen HaPå her, gerade dann, als die Blücher versenkt wird und in Rjukan die Fabrik für Schweres Wasser in die Luft geht. Und als König Haakon und Kronprinz Olav aus London zurückkehren, gilt der Jubel des Volkes nicht nur ihnen, sondern auch dem neuen „Süßaufstrich“, den Norwegen jetzt anzubieten hat, der Geheimwaffe gegen den Alltagstrott und die unvermeidlichen Rückschläge im Leben. HaPå. Der Brotaufstrich der Zukunft. Die protestantische, sozialdemokratische Alternative zu Nazibrotbelag wie in verdorbenem Tran gebratenen Rübenscheiben.

Nur mit einem kann ich mich nicht abfinden. Ja, ich weiß, ich muss, aber ich kann es trotzdem nicht. Und zwar mit der Gewissheit, dass ich ein ganzes Leben mit einem Missverständnis gelebt habe, wenn es um diesen einst so geliebten Brotbelag geht. Seit ich mit drei, vier Jahren die Bekanntschaft von HaPå gemacht habe und bis zum heutigen Tag habe ich niemals daran gezweifelt, dass der Name HaPå eben bedeutet, „ha på“, also, „streicht es aufs Brot“, ich habe an dieser Deutung nie auch nur eine Sekunde gezweifelt, ich habe sie gewissermaßen als naturgegeben betrachtet. Aber dann stellt es sich heraus, dass HaPå die Abkürzung für „Hamar-Pålegg“ ist. Denn dieser Brotaufstrich wurde ursprünglich und bis im Jahre 2008 Kavli einschritt und die weitere Produktion rettete, in Hamar hergestellt. In Hamar! Der vielleicht erbärmlichsten von allen norwegischen Städten! Diesem Nicht-Ort auf Erden!
Ich ertappe mich dabei, dass ich hier vor dem Bildschirm laut auflache.
Aber schon bald überkommt mich wieder der Ernst. Wusste Mutter das, ohne es mir gegenüber jemals auch nur anzudeuten? Hat sie HaPås Geheimnis mit ins Grab genommen? Oder ist sie ganz einfach in Unkenntnis der Tatsache gestorben, mit der ich mich soeben abfinden musste?

Wie auch immer, es ist eine traurige Vorstellung!


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